Der Westen ist raus aus Afghanistan, die Menschen drin sind Gefangene der Taliban. In eigenen Interesse, sagt die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien, sollte der Westen jetzt eine rettende Luftbrücke bauen. Sonst droht weiteres Unheil.
Selten sind so viele politische Entscheidungsträger von der Lage in Afghanistan so überrascht worden, und selten haben so viele hier so viel Hilflosigkeit angesichts der Machtübernahme durch die Taliban gespürt. Hand aufs Herz, wie überrascht warst du selbst?
Wovon ich nicht überrascht war, ist die Art und Weise, wie potenzielle europäische Aufnahmeländer auf die sich abzeichnende Fluchtbewegung reagiert haben. Seit dem letzten Jahr haben wir den Vorschlag des EU-Migrationspakts auf dem Tisch. Der wäre jetzt wichtig, weil er auch einen eingebauten Solidaritätsmechanismus enthält, um Geflüchtete fair auf EU-Mitgliedstaaten zu verteilen.
Das wurde inzwischen überhaupt nicht gelöst, und jetzt haben wir die nächste humanitäre Katastrophe, die natürlich auch Auswirkungen auf Europa haben wird. Es war leider fast zu erwarten, dass es sehr wenig Solidaritätsbekundungen gab, die über die oft zitierte Hilfe vor Ort hinausgehen.
Die humanitäre Krise in Afghanistan wurde automatisch zur politischen Krise hier. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer etwa redete von bis zu 5 Millionen Menschen, die jetzt vor den Taliban zu uns fliehen würden. Das Mantra in Österreich wie in Deutschland lautet: 'Es darf kein neues 2015 geben'.
Ich glaube, dass der Satz '2015 darf sich nicht wiederholen', damit ich ihn auch hier ausgesprochen habe, mittlerweile zu einer komplett sinnentleerten Chiffre geworden ist. Man kann alles und nichts hinein interpretieren. Die Frage ist: welcher Aspekt der Antwort, die wir als Europa 2015 auf die Fluchtbewegung gegeben haben, soll sich nicht wiederholen?
Da gibt's Dinge, die überhaupt nicht optimal gelaufen sind, und die vor allem auch für die Betroffenen selbst - nämlich geflüchtete Familien - nicht optimal waren. Der Satz soll vor allem ein Signal an potentielle Wählerinnen und Wähler senden, dass hier auf eine Art Law & Order Politik, auf verstärkten Grenzschutz gesetzt wird.
Und, was ich schon bezeichnend finde: wir hören diesen Satz mittlerweile durch das gesamte politische Spektrum hindurch, ganz links, als auch ganz rechts der Mitte. Aber wenn man schon meint, man sollte es jetzt besser machen als damals, welche Lösungsvorschläge, welche ganz konkreten Lösungsvorschläge, liegen denn auf dem Tisch?
Da fehlt es einerseits an generellen Visionen, wie Europa in Zukunft Asylpolitik human gestalten kann, andererseits an nationalstaatlichen Handlungsoptionen, die es ja gäbe. Aber da ist nichts außer den üblichen Vorschlägen zur Hilfe vor Ort, oder zur Kooperation mit Nachbarländern, die selbst schon an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Da gibt's wenig Vision und sehr wenig Neues.
Wohin sollen Menschen in Afghanistan fliehen? Alle Grenzen sind geschlossen. Pakistan beherbergt jetzt schon rund 1,5 Millionen Geflüchtete ausAfghanistan. Millionen leben im Iran, wo sie sehr schlecht behandelt werden. Die Türkei beherbergt 3,6 Millionen syrische Geflüchtete und hat mit Sicherheit große Angst vor der Aufnahme weiterer Menschen auf der Flucht. Das ist die Lage. Es gibt keine 'Luftbrücke Kabul', die humanitäre Hilfe ist vorerst eingestellt. Also die Leute kommen nicht aus Afghanistan hinaus, und wenn doch, nicht einmal in die Nähe von Europa.
Ich denke auch, dass es derzeit nicht seriös ist, konkrete Prognosen anhand von Zahlen in den Raum zu stellen. Mir ist auch nicht klar, woher Politiker diese Zahlen nehmen. Wir wissen aus der Forschung, wie die Dynamik von Fluchtbewegungen abläuft. Menschen fliehen zuerst innerhalb der Grenzen ihres Landes in vermeintlich sicherere Regionen. Das war bis vor kurzem noch die Hauptstadt Kabul, aber die ist nun auch kein sicherer Ort mehr.
Erst danach werden die Grenzen, und da vor allem in die Nachbarländer, überschritten. Nun signalisieren aber die wichtigsten Aufnahmeländer der Vergangenheit, allen voran Pakistan und in weiterer Folge auch die Türkei, dass sie ihre Grenzen schließen, dass sie keine Geflüchteten mehr aufnehmen.
Die Türkei baut ja gerade in großer Eile eine Mauer an der Grenze zum Iran.
Absolut. Und wir erinnern uns ja auch an das EU-Türkei-Abkommen, das sich vor allem auf Menschen aus Syrien konzentriert hat. Da waren afghanische Geflüchtete noch gar nicht inkludiert. Und dieser Deal hat bis dato deshalb schlecht funktioniert, weil die zweite Seite des Abkommens kaum umgesetzt wurde. Dass nämlich Europa sehr wohl syrische Geflüchtete, die ein Recht auf humanitäre Hilfe und Asyl haben, aufnimmt und fair auf seine Mitgliedstaaten verteilt.
Österreich etwa hat Geflüchtete, die über dieses Abkommen ins Land kommen würden, nur zu einem ganz, ganz geringen Anteil aufgenommen. Das setzt übrigens den viel gehörten Satz: 'Wir haben schon so viel geleistet' ein wenig in Perspektive.
Als Alternative zu unsicheren Fluchtrouten wird viel über Resettlement-Programme diskutiert, also die geordnete legale Ausreise über den Flughafen von Kabul und Unterbringung in einem Aufnahmeland. Auch da gibt es aber kaum positive Signale aus Europa.
Eigentlich ist eine Luftbrücke die einzige Möglichkeit für sehr viele Menschen. Denn aus vielen geographischen und historischen Fluchtkontexten wissen wir, dass in so einer akuten Gefahrensituation die Nachfrage nach Schlepperei steigt. Was dazu führt - es ist ein Markt wie jeder andere - dass die Preise in die Höhe gehen. Wir haben mal die Kosten für eine Flucht aus Syrien erhoben. Da haben die Menschen im Durchschnitt ein Jahreseinkommen für den Weg von Damaskus nach Wien bezahlt.
Aus Afghanistan wird das eine noch höhere Summe sein, weil der Weg wesentlich weiter und teilweise auch gefährlicher ist mit den vielen Transitaufenthalten. Weil es aber kaum legale Fluchtmöglichkeiten gibt, provozieren wir eine Form der ökonomischen Auslese. Die Ärmsten der Armen im Land, und der Großteil der Bevölkerung ist sehr arm, kann sich eine Flucht mittels Schlepperei nicht leisten, und es fehlt derzeit an gangbaren Alternativen.
Die Menschen sind damit Gefangene der Taliban im eigenen Land, und das vermutlich auf unabsehbare Zeit.
Ja. Und die jetzige Situation ist auch ein idealer Nährboden für antiwestliche Ressentiments, die die Taliban ganz bewusst und ganz stark streuen. Die afghanische Zivilbevölkerung fühlt sich im Stich gelassen. Die Art und Weise, wie die Truppen der USA und ihrer Verbündeten abgezogen sind, war in keinster Weise koordiniert, es wurde nicht auf die Sicherheit der Ortskräfte geschaut.
Nun wäre der Westen gut beraten, zumindest bei der humanitären Hilfe, sich sehr großzügig und rasch und akut helfend zu zeigen. Hilfe vor Ort ist ja tatsächlich möglich, indem NGOs dort weiter tätig sind und die Nachbarländer unterstützt werden. Darüber hinaus, das liegt im westlichen Eigennutz, sollten Menschen weiter per Luftbrücke aus dem Flughafen von Kabul oder anderen afghanischen Flughäfen rausgeflogen, evakuiert und resettlet werden. Sonst verstärken sich die antiwestlichen Gefühle immer weiter.
Die Menschen haben auch langfristig das Vertrauen in den Westen verloren. Damit, glaube ich, kreiert man schon die nächste globale Krise, und genau das sollte natürlich nicht der Fall sein.
Peter
Das ist ein kleines Zeitfenster, um eine Situation, die schlimm genug ist, nicht noch schlimmer werden zu lassen. Gibt es einen Hoffnungsschimmer?
Auf europäischer Ebene ist eine Einigung aller 27 Mitgliedstaaten, Menschen aufzunehmen, relativ utopisch, um ehrlich zu sein. Was ich aber schon denke ist, dass sich eine Art Koalition der Willigen formiert. Das zeichnet sich bereits ab. Interessanterweise geht hier Osteuropa sehr positiv voran. Tschechien, die Slowakei und sogar Polen nehmen über die Luftbrücke ein kleines Kontingent afghanischer Familien auf. Auch Länder wie Albanien oder Uganda haben auf Bestreben der USA hin zugesagt, zumindest temporär Menschen aufzunehmen, die dann später in die USA resettlet werden sollen.
Im Kleinen tut sich also schon etwas. Die Anzahl der Menschen, die in Sicherheit gebracht werden, ist natürlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es bräuchte viel mehr, aber für jeden Einzelnen, für jede Einzelne, die gerettet wird, ist das eine gute Nachricht, und ich glaube da kann der Weg ansetzen.