Stigmatisiert und ausgegrenzt: VIDC präsentiert erste Studie über Abgeschobene von Österreich nach Afghanistan

“From Austria to Afghanistan: Forced return and a new migration cycle”. Erstmals untersucht: wie geht es Abgeschobenen nach ihrer Rückkehr? Spoiler: schlecht.

Dieser Artikel wurde zunächst im VIDC Online Magazin Spotlight März 2021 veröffentlicht:

Die im Februar 2021 veröffentlichte VIDC Studie “From Austria to Afghanistan: Forced return and a new migration cycle” von Ali Ahmad geht der Frage nach wie es Abgeschobenen nach ihrer Rückkehr in Afghanistan ergeht. Von März bis September 2020 wurden 16 afghanische Männer interviewt, die zwischen 2015 und 2020 Österreich verlassen mussten. Drei davon sind im Rahmen eines Rückkehrprogramms der Internationalen Organisation für Migration (IOM) „freiwillig“ nach Afghanistan zurückgekehrt, die anderen 13 wurden aus Österreich abgeschoben. Neben der sich verschlechternden Sicherheitslage ist Stigmatisierung die größte soziale und psychologische Herausforderung, mit der sich die Deportierten konfrontiert sehen.

Als Österreich Dehqan  (alle Namen wurden von der Redaktion geändert) 2019 nach Afghanistan abschob, war er zu beschämt, um seinen Verwandten gegenüberzutreten. Sie sind nämlich der Auffassung, dass Dehqan ein schweres Verbrechen begangen habe, ansonsten wäre er doch nicht nach Afghanistan abgeschoben worden. Nichts habe er erreicht. „Was hast du in all den Jahren in Österreich gemacht?“, fragen Dehqans Verwandte in Zentralafghanistan. Dehqan kämpft in der Folge an mehreren Fronten, um den psychologischen und sozialen Druck zu überwinden. Hinzu kommt, dass sich die Lage in Afghanistan während seiner Abwesenheit, aus sicherheitspolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Sicht dramatisch verschlechtert hat. Aufgrund der Stigmatisierung, die mit der Abschiebung verbunden ist, vermeidet Dehqan es auch, seine Verwandten darüber zu informieren, dass er zur Rückkehr gezwungen wurde. „Die Sicherheitsbedrohungen auf der einen Seite und das Stigma der Abschiebung auf der anderen Seite belasten mich sehr“, erklärt der ehemalige Polizeibeamte Dehqan während eines Interviews für die kürzlich veröffentlichte VIDC Studie.

Stigma der Abschiebung: „Verwestlicht, kriminell und ungläubig“

„Verlierer, verwestlicht, kriminell und ungläubig“ sind die gängigsten Bezeichnungen, die die Rückkehrer*innen im täglichen Umgang mit ihren Verwandten und Freund*innen zu hören bekommen. Einige der Rückkehrer*innen werden zudem beschuldigt, das Christentum und die fremde Kultur in ihren lokalen Gemeinschaften zu verbreiten. „Ich bin aus Europa mit einer anderen Kultur zurückgekommen und sie glauben, dass ich zurückgekehrt bin, um diese fremde Kultur und Religion zu verbreiten“, so Siawash, der im Rahmen des Rückkehrprogramms von IOM 2018 nach Afghanistan zurückgekehrt ist.


Kaihan ist 2015 vor den Taliban nach Österreich geflüchtet. Er wurde im Dezember 2019 abgeschoben und ist in seiner Heimatprovinz im Norden dem Stigma „zum Christentum konvertiert zu sein“ und „Menschen bekehren zu wollen“, ausgesetzt.  „Die Familie, Nachbarn und Verwandten denken, dass ich in Österreich zum Christentum konvertiert bin. Sie vermuten, dass ich nach Afghanistan zurückgekehrt bin, um weitere Menschen zum Christentum zu bekehren. Deshalb ist meine persönliche Sicherheit schlechter geworden als 2015“, erklärt Kaihan. Zudem hatte er eine Beziehung mit einer europäischen Frau und Bilder von ihr auf Facebook gepostet, was das Gerücht aufkommen ließ, dass er seine Religion und Kultur aufgegeben habe.  

Afghanistan heute: „Gefährlicher, politisch instabiler und kulturell restriktiver“

Die Zwangsrückkehrer*innen sind in Afghanistan mit wirtschaftlicher Not, psychischem Druck und dem Verlust des sozialen Netzwerks konfrontiert. Das Gefühl „nichts erreicht zu haben“ ist unter den Befragten weit verbreitet. Aufgrund der Stigmatisierung und der damit einhergehenden nicht-vorhandenen Möglichkeit Einkommen zu generieren, sind sie nicht in der Lage, die oftmals beträchtlichen Schulden der Flucht zu bezahlen. Die Verwandten tun sich schwer nachzuvollziehen, wieso manche in Europa Fuß fassen konnten und andere abgeschoben wurden. Asad beschreibt das im Interview so: „Meine Eltern fragen mich immer wieder, warum es die Kinder von X und Y nach Europa geschafft haben und sich etablieren konnten, ihr Sohn aber in Österreich gescheitert ist, warum anderen Afghan*innen Asyl gewährt wurde und ihr Kind abgelehnt wurde. Meine Eltern verstehen nicht, welche Schwierigkeiten ich durchgemacht habe.“


Mangelnde Sicherheit war die größte Herausforderung für Siawash, als er als Journalist im Osten Afghanistans arbeitete und 2010 gezwungen wurde, sein Land zu verlassen. Bei seiner Rückkehr Ende 2018 findet er ein anderes Afghanistan vor: es sei kulturell restriktiver, ärmer, aus sicherheitspolitischer Sicht gefährlicher und politisch instabiler geworden. Zusätzlich zu den Bedrohungen durch die Taliban und den Islamischen Staat (IS) muss Siawash auch mit dem kulturellen Stigma der Rückkehr fertig werden. „Ich arbeite für die Regierung“, erklärt Siawasch: „Meine Position ist nicht sehr hoch, aber für den Feind ist das hoch genug, um meine Tötung zu rechtfertigen. Zudem bin ich aus Europa zurückgekehrt und komme mit einer anderen Kultur. Und ich bin angeblich zurückgekehrt, um eine fremde Kultur und Religion zu verbreiten.“

Diese Aussagen verdeutlichen den Druck unter denen die Rückkehrer*innen  stehen: „Meine Bekannten stellen mir oft die Frage, warum ich deportiert wurde. Sie denken, dass ich ein Verbrechen begangen haben muss. Für sie ist eine Abschiebung gleichbedeutend damit, ein Verbrechen begangen zu haben“, erzählt Hamza, der 2019 - nach vier Jahren in Österreich lebend - abgeschoben wurde.

„Heimat“ Afghanistan?

Fünf der 16 Befragten wurden nicht in Afghanistan, sondern im Iran bzw. Pakistan geboren. Afghanistan ist ein fremdes Land für sie, welches sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern und aus Medienberichten kannten. Aufgrund dessen kommt es in diesen Fällen wahrscheinlich noch häufiger zu einer Traumatisierung. Afsar zum Beispiel hatte Afghanistan bis zu seiner Abschiebung im März 2020 noch nie gesehen. Er kannte das Heimatland seiner Eltern nur aus den Medien, in denen Selbstmordattentate und die Taliban das Nachrichtenprogramm dominieren. Die österreichischen Asylbehörden sahen Afghanistan trotzdem als „Heimat“ für Afsar an, während es für Afsar nichts Vertrautes gab, was er mit diesem Land in Verbindung hätte bringen können. Geboren und aufgewachsen als Flüchtling im Iran, verbrachte Afsar zwei Jahre in Griechenland, bevor er sich 2015 auf den Weg nach Österreich machte. Afsar hatte keine Freund*innen oder Verwandte in Afghanistan. Nach seiner Abschiebung Anfang 2020 nach Kabul war er so verzweifelt, dass er einen Selbstmordversuch unternahm. Heute lebt er in ständiger Angst vor den Angriffen der Taliban, den täglichen Explosionen in Kabul und vor der Bedrohung durch Verbrechen. „Dies ist mein neunzehnter Tag seitdem ich abgeschoben wurde. Ich muss noch einige Wochen hier leben, um zu beurteilen, wie das Leben hier aussieht, aber es scheint sehr schwierig zu sein. Die Abschiebung hat mein Leben zerrissen“, so Afsar.

Afghanistan ist nicht sicher: VIDC Studie empfiehlt Abschiebestopp

Die Studie verdeutlicht, dass die afghanische Regierung ihre Bürger*innen nicht vor Gewalt beschützen kann. Die Taliban kontrollieren mehr Territorium in Afghanistan als jemals zuvor, seitdem sie 2001 von der Macht verdrängt wurden. Folglich ist Afghanistan auch kein sicherer Ort für Rückkehrer*innen, und Österreich sollte die Abschiebung von Afghan*innen sofort stoppen, unabhängig von etwaigen Rückführungsabkommen, die die EU mit der afghanischen Regierung abgeschlossen hat. Sollte es trotz menschenrechtlicher und sicherheitspolitischer Bedenken zu Rückführungen nach Afghanistan kommen, sollte zumindest ein umfassendes System zur Unterstützung der Reintegration für alle Rückkehrer*innen mit unterschiedlichen Qualifikationen entwickelt werden.

Weiterführende Literatur und Links