„Wir müssen aus der Migrationsfalle“

Warum Migration und Flucht nicht dasselbe sind und Solidarität nichts Falsches. Und was Uganda Österreich und Deutschland voraus hat. Der Migrations-Experte Michael Fanizadeh über globale Flüchtlingsströme und ihre Folgen.

von
Peter Arp
und

Wenn hierzulande von Geflüchteten die Rede ist, bemühen Populisten schnell Begriffe wie  „Bevölkerungsaustausch“ und „Überflutung“. Ein unverstellter Blick auf Migration und Flucht scheint zur Zeit kaum möglich. Wie kann mehr Gelassenheit in die Debatte zurückgebracht werden? 

Michael Fanizadeh im Gespräch mit The Journey.
Michael Fanizadeh

Es ist wichtig die Zahlen zu verstehen und einzuordnen. Weltweit gibt es rund 275 Millionen Migrantinnen und Migranten. Der ganz überwiegende Teil stammt aus den Ländern des Südens und bleibt in den Ländern des Südens. In Asien gibt es daher die meisten MigrantInnen. Europa liegt schon sehr weit vorne. Nur: die allergrößte Zahl der Migrantinnen und Migranten in Europa - auch in Deutschland und Österreich - sind Menschen die aus Europa selbst kommen. Das hat mit der Europäischen Union zu tun und mit der Personenfreizügigkeit, die eines ihrer wesentlichen Kennzeichen ist. Es ist wichtig das zu verstehen. 

Den 258 Millionen MigrantInnen weltweit stehen 68 Millionen Geflüchtete gegenüber. Laut UNO-Hilfswerk UNHCR sind die meisten davon Vertriebene, nämlich 40 Millionen. 

Den 275 Millionen stehen 82 Millionen Geflüchtete gegenüber. Laut UNO-Hilfswerk UNHCR sind die meisten davon Vertriebene, nämlich 40 Millionen. Vertrieben zu werden bedeutet, dass die Menschen im jeweiligen Heimatland vor kriegerischen Konflikten flüchten. Es können aber auch Umweltkatastrophen sein, Dürre oder Hunger. Die überwiegende Zahl dieser Vertriebenen verbleibt in ihrem Land, sie sind daher Binnenflüchtlinge. Der Rest, also 28 Millionen, migriert von einem Land in ein anderes. Wir sprechen überhaupt erst dann von Migration, wenn jemand das Land wechselt. Und auch diese Menschen verbleiben danach hauptsächlich in ihren Herkunftsregionen. Die wenigsten gelangen zu uns oder versuchen es überhaupt.

Das Problem besteht also in der Vermengung unterschiedlicher Begriffe?

Wir unterscheiden nicht - und das halte ich für ein großes Problem - zwischen Migration und Flucht. Beide Begriffe werden unterschiedslos zusammengewürfelt. Gerade die rechtspopulistischen Parteien tun gerne so als wäre alles das Gleiche: wir im Abwehrkampf gegen eine Riesenmenge an Flüchtlingen. Aber das stimmt so nicht. Es sind zwei verschiedene Sachen und aus dieser Migrationsfalle müssen wir raus. Und erkennen, dass Solidarität nichts Falsches ist. Solidarität mit Menschen die zu uns kommen, weil sie geflüchtet sind, weil sie flüchten mussten - das ist nichts Falsches. Natürlich gibt es in Österreich und Deutschland eine solidarische Bevölkerung, die sich 2015/16 wirklich angestrengt hat, und viele strengen sich auch heute noch an. Das ist etwas auf das wir stolz sein können. Wir dürfen nicht den Fehler machen, in die Falle zu tappen, Solidarität unter den Tisch fallen zu lassen und uns dafür zu schämen. Das heißt ja nicht dass wir Probleme nicht wahrnehmen dürfen, die es selbstverständlich gibt und die wir bewältigen müssen. Aber die Krisen nehmen zu in der Welt. Man muss es leider sagen: es gab noch nie so viele geflüchtete Menschen wie jetzt, das ist der höchste Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Und wir müssen den Ländern helfen, die jetzt die Aufnahmeländer dieser Geflüchteten sind. 

Die Anzahl derjenigen die beispielsweise in Deutschland oder Österreich um Asyl ansuchen, ist – unabhängig von der gefühlten Menge – also weitaus geringer als anderswo.

1,2 Millionen Menschen sind nach Uganda geflüchtet, vor allem aus dem Südsudan. Dort herrscht ein Bürgerkrieg der bei uns, zumindest bisher, nicht beachtet wurde.

Um die Zahlen zu verdeutlichen: die Türkei beherbergt aktuell die meisten Flüchtlinge weltweit, nämlich 4,1 Millionen. Eine gewaltige Zahl. Aber auch die Situation in Pakistan ist uns hier nicht bewusst. Dort sind 1,4 Millionen Menschen, vor allem Afghanen und Afghaninnen. Und was bei uns überhaupt nicht diskutiert wird: mittlerweile liegt Uganda auf Platz zwei, gleichauf mit Pakistan. 1,2 Millionen Menschen sind nach Uganda geflüchtet vor allem aus dem Südsudan. Dort herrscht ein Bürgerkrieg der bei uns, zumindest bisher, nicht beachtet wurde. Denn aus dem Südsudan kommt fast niemand nach Deutschland oder Österreich und nur sehr wenige schaffen es überhaupt nach Europa. 

Wie werden diese Länder mit der immensen Anzahl von Flüchtlingen im Land fertig? Die eigenen Möglichkeiten sind ja, im Gegensatz zum reichen Westen, sehr begrenzt. 

Bleiben wir, um die Frage zu beantworten in Uganda, einem der ärmsten Länder der Welt. Dennoch bemüht sich die ugandische Regierung wirklich sehr. Die haben ganz schlechte ökonomische Voraussetzungen, um Hilfe im geforderten Ausmaß zu leisten. Aber sie haben einen Vorteil, nämlich viel Land. Und dieses Land verteilen sie an die Flüchtlinge und eröffnen ihnen damit die Möglichkeit, Subsistenzwirtschaft zu betreiben, um sich selbst erhalten zu können. Das UNHCR und andere Hilfseinrichtungen betreuen Lager vor Ort und kümmern sich um die Essensausgabe, um die Versorgung mit Wasser und so weiter. Aber die Idee dahinter ist dass die Leute möglichst unabhängig sein sollen und diese Hilfe nur kurz benötigen, um ihr Leben bald selbst zu meistern. Die Flüchtlinge haben daher das Recht zu arbeiten und in Uganda umher zu reisen. Das ist sehr positiv. 

Jetzt hat aber die UNO berechnet wie viel Geld es braucht um die Geflüchteten dort adäquat zu unterstützen. Und da zeigt sich eine totale Unterversorgung. Nicht nur Europa, auch die anderen reicheren und reichen Länder dieser Welt ziehen sich aus ihrer Verantwortung zurück. In Uganda sind nur 68 Prozent der notwendigen Mittel tatsächlich eingezahlt worden. Auch Deutschland und Österreich bilden keine Ausnahme. In Österreich gingen beispielsweise im vergangenen Jahr die Entwicklungshilfemittel wieder zurück. Die Regierung hatte zwar in ihrem Arbeitsübereinkommen finanzielle Unterstützung in Krisenregionen versprochen, tatsächlich aber gibt es einen Rückgang der Entwicklungshilfe auf 2,8 Prozent des BIP. Das ist ein sehr niedriger Wert, auch im Vergleich mit anderen Industrieländern. 

Wir Entwicklungsorganisationen sagen natürlich: das muss wesentlich mehr werden. Nur wenn wir wirklich vor Ort helfen, können wir verhindern dass die Leute weiter ziehen. Unsere Vision ist, dass Migration freiwillig stattfinden soll. Wenn jemand migrieren will, um anderswo zu studieren oder sich auf die Suche nach Arbeit zu begeben, dann soll er das tun können. Aber niemand sollte gezwungen sein zu migrieren. Um diese Vision Realität werden zu lassen, müssen wir unsere Anstrengungen massiv vermehren. Wir sollten hier in Europa die Lehre aus unserer eigenen Geschichte ziehen und Geflüchteten unsere Solidarität nicht versagen. Wir können da nicht wegschauen. Und Hilfe vor Ort ist sicherlich die Art von Hilfe die Menschen vor allem brauchen. Und genau daran hapert es immer. 

Zwei Länder haben wir, wegen ihrer geografischen Nähe und weil sie unmittelbar an Syrien grenzen, mehr im Blick – Jordanien und den Libanon. Auch dort gibt es Geflüchtete in großer Zahl und die Spannungen in beiden Ländern nehmen zu.

Man muss sich das mal vorstellen: der Libanon beherbergt 865.000 Geflüchtete. Es ist kein sehr bevölkerungsreiches und vor allem kein reiches Land. Die Regierung steht vor der massiven Aufgabe, all diese Leute in die Gesellschaft zu integrieren, ihnen Arbeit zu geben, Schulen bereitzustellen und so weiter. Wir müssen den Libanon darin unterstützen, und da ist die internationale Gemeinschaft wirklich säumig. Wenn nichts passiert, müssen sich die Menschen, weil sie keine Zukunftsperspektiven für sich sehen, auf den Weg machen und woanders ihr Auskommen finden. Europa muss daher deutlich mehr Hilfe leisten. Meiner Meinung nach müssten auch die Resettlement-Programme, die besonders vulnerablen Menschen die sichere Einreise nach Europa gewährleisten, massiv ausgeweitet werden. 251.000 Menschen wurden 2020 vom UNHCR auf diese Weise weltweit verteilt. Da kommen sicher noch viele dazu, und dafür braucht es internationale Anstrengungen.

Auch in Jordanien sind hunderttausende aus Syrien vertriebene Menschen. Die Stimmung im Land, sagen Beobachter vor Ort, kippe zunehmend. Und sie kippt umso schneller, wenn diese Hunderttausende nicht nach Syrien zurückkehren, was aber nicht absehbar ist, und jetzt dem Gastland auf der Tasche liegen. Bahnt sich möglicherweise eine neue Migrationswelle Richtung Europa an? 

Vielleicht. Aber das würde ich auch nicht dramatisieren. Der Libanon schiebt jetzt Flüchtlinge nach Syrien ab, weil dieser Druck natürlich da ist. Jordanien tut das noch nicht. Das heißt nicht dass derselbe Druck dort nicht spürbar wäre. Was also ist zu tun? In so einer Krisensituation müssen Entwicklungsorganisationen aus Europa, wie die aus der ich komme, zusammen mit Partnern aus der lokalen Wirtschaft Einkommensmöglichkeiten schaffen und für beide Bevölkerungsgruppen zugänglich machen. Das ist Entwicklungspolitik. Nur wenn das passiert, wenn die einheimische Bevölkerung und die Geflüchteten gleichzeitig profitieren, kann man davon ausgehen dass die Mehrheitsbevölkerung die Minderheit akzeptiert. 

In so einer Krisensituation müssen Entwicklungsorganisationen aus Europa zusammen mit Partnern aus der lokalen Wirtschaft Einkommensmöglichkeiten schaffen und für beide Bevölkerungsgruppen zugänglich machen.

Das sind die gleichen Debatten, die wir auch hierzulande führen. Bei uns heißt es dann: Die Flüchtlinge kriegen alles und wir kriegen nix. Wenn also in Jordanien alle Hilfsleistungen nur den syrischen Flüchtlingen zugute kämen und die lokale Bevölkerung nicht profitiert, wäre das ganz falsch. Aber das wissen die Hilfsorganisationen. Das wissen auch die dortigen Unternehmer die versuchen tätig zu werden. Ich glaube aber es braucht noch sehr viel mehr Unterstützung aus dem Westen, viel, viel mehr. 

Das ist eine schwierige Gemengelage. Viele hier würden die Grenzen am liebsten total schließen, die politische Debatte erschöpft sich oft in Zerrbildern und das Naheliegendste, die internationale Hilfe vor Ort, kommt nicht oder nur schleppend. Welche Auswege gibt es?

Die Syrer hoffen jetzt sehr stark auf Frieden in ihrem Heimatland. Gibt es endlich Frieden oder nicht? Die große Unbekannte ist die aktuelle Krise der USA mit dem Iran, denn die ist verwoben mit allem was in Syrien passiert. Sollte es im Iran einen großen Krieg geben, würde das wieder Hunderttausende von Flüchtlingen produzieren, die aufgrund der historischen Freundschaft mit der Türkei dorthin fliehen würden. Die Türkei hat immer offene Grenzen für Iraner gehabt. Das hätte auch Auswirkungen auf die Situation in Syrien, wo der Iran als Unterstützer Assads militärisch beteiligt ist. Das ist wirklich die ganz große Gefahr. 

Die syrischen Flüchtlinge im Libanon, in Jordanien und in der Türkei hoffen dennoch auf Frieden in ihrer Heimat und diskutieren viel über den Wiederaufbau. Genau wie die syrische Community in Österreich. 

Natürlich wird in der Provinz Idlib noch hart gekämpft, doch beginnt anderswo bereits der Wiederaufbau. Politisch kann man das jetzt kritisch sehen, weil viele der syrischen Geflüchteten keine Anhänger und Anhängerinnen von Assads Regime sind und viele auf die demokratische Option gesetzt hatten, die vom Krieg zermalmt wurde. Nichtsdestotrotz haben die meisten noch Verwandte im Land. Die Syrer bei uns denken darüber nach, wie sie ihre Verwandten zu Hause unterstützen und was sie sonst machen können. Soll man mit dem Wiederaufbau beginnen oder muss zuerst die politische Aussöhnung kommen? Das treibt die Community sehr stark um. 

Das würde eine Aussöhnung mit Präsident Assad selbst bedeuten. Mit dem Mann, der den Krieg ausgelöst und unbarmherzig vorangetrieben hat und der nach wie vor fest im Sattel sitzt. Gibt es überhaupt Chancen auf irgendeine Art von Frieden mit ihm? 

Wenn man die gesamte Machtelite entfernt und alle Apparate zerstört, […]  ist das keine Lösung und das Land stürzt in noch größeres Chaos.

Wenn man ganz realistisch sein will, muss man sagen: das geht gar nicht anders. Das ist keine Frage der Moral. Die Realität im syrischen Bürgerkrieg ist dass Syrien mittlerweile in verschiedenste Einflusszonen aufgeteilt ist. Und natürlich müssen alle diese Einflusszonen und die Mächte die hinter ihnen stehen gemeinsam ein funktionierendes Friedensabkommen aushandeln. Ob uns das jetzt gefällt, ist nicht die Frage. Sicher ist das bitter für alle, die damals im sogenannten arabischen Frühling von einer demokratischen Revolution geträumt haben, aber jetzt bleibt nichts anderes übrig. Ich hoffe schon, dass am Ende eines solchen Prozesses zumindest die führenden Köpfe des Assad-Regimes verschwinden werden. Aber wir sollten auch die Lektion aus dem Nachkriegs-Irak gelernt haben. Wenn man die gesamte Machtelite entfernt und alle Apparate zerstört – was die USA damals nach dem Tod Saddam Husseins gemacht haben – dann ist das keine Lösung und das Land stürzt in noch größeres Chaos. Insofern: man muss sich zusammen an einen Tisch setzen. Klar, wenn der Iran im Kriegsfall aus dem Spiel genommen würde, wären die Verhältnisse sofort anders verteilt weil Russland und der Iran hinter Assad stehen. Wie würde sich Russland dann verhalten? Das ist alles ganz schwierig. Aber letztendlich müssen bei Friedensgesprächen alle Kriegsparteien am Tisch sitzen. Sonst wären es ja kein Friedensgespräche.