Die Praxis der Externalisierung am Beispiel Niger

Um zu verhindern, dass Menschen auf der Flucht aus Afrika auch nur in die Nähe Europas kommen, verschiebt die EU ihre Grenzen weit über das Mittelmeer hinaus. Wie das funktioniert? Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt. EU-Entwicklungshilfe wird dort an die Verhinderung von Migration gekoppelt - mit sanftem und weniger sanftem Druck. Ein Fallbeispiel.

von
Nicolas Arp
und

Warum interessiert sich Europa für Niger?

Historisch gesehen war Niger seit seiner Unabhängigkeit 1960, außer in Bezug auf Entwicklungshilfe, nie von besonderem Interesse für Europa. Das Land liegt in der Sahelzone, zwischen den Anfängen der Wüste Sahara und Sub-Sahara Afrika. Ein Teil des Kontinents, der von vielen Krisen gebeutelt ist. Radikale und separatistische Gruppen, Menschenhandel und extreme Armut in Verbindung mit schwacher Regierungsführung - das sind die zentralen Probleme der Region. Laut Human Development Index (Stand: 2020) gilt Niger als eines der ärmsten Länder der Welt. 

Der Weg führt durch Niger

Woher also das migrationspolitische Interesse der EU? Der Blick auf Niger änderte sich vor allem, als Migrant*innen aus Subsahara-Afrika in großer Zahl in Italien, Malta und Griechenland ankamen. Niger liegt an einer historischen Migrationsroute durch die Sahara Richtung Libyen und Mittelmeer. Weil ein großer Teil der nach Europa strebenden Migrant*innen Niger als Transitland nutzt, hat die EU die Zusammenarbeit in der Migrationskontrolle drastisch erhöht. Schon 2016 beschrieb die Europäische Kommission die Zusammenarbeit zwischen Niger und der EU in Sachen Migration als essentiell. In den Entwicklungshilfe-Zahlungen entwickelte sich allmählich ein verstärkter Fokus auf Sicherheit und Migration. Das zeigte sich sowohl in der Neudefinition bestehender als auch in der Schwerpunktsetzung neuer Programme. 


Niger und Agadez als Migrationsknotenpunkt. Die EU will genau das verhindern.

Eine Reihe von Faktoren tragen zur ausgeprägten Bedeutung Nigers auf der migrationpolitischen Agenda der EU bei. Da ist die geografische Lage des Landes. Und die Abhängigkeit von Entwicklungshilfe, die die EU an Unterstützung in der Migrationskontrolle koppelt - ein Abhängigkeitsverhältnis mit beachtlichem Machtgefälle zwischen den ungleichen “Partnern". Und schlussendlich zählt auch die Bereitschaft Nigers dazu, der EU tatsächlich bei der Eindämmung von Migrationsbewegungen zu helfen. 

All das unterstreicht, wie vielfältig der Einfluss der EU sein kann - direkt und indirekt. Einfluss, der im folgenden an drei konkreten Beispielen dargestellt werden soll.

EUCAP Sahel Niger:  von der Terrorbekämpfung zu Migrationskontrolle

EUCAP Sahel Niger wurde 2012 ins Leben gerufen. Es ist eine zivile Mission im Rahmen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU. Und zielt konkret darauf ab, nigrische Sicherheitsakteure (die nationale Polizei, die Armee usw.) bei der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität durch den Einsatz internationaler Experten zu unterstützen. 

2016 wurde die Zuständigkeit der Mission allerdings bedeutsam erweitert. Die zentrale Bedeutung Nigers als Transitland für Migrant*innen in Richtung Norden rückte in den Mittelpunkt. So wurde das offizielle Mandat erweitert, um nigrische Sicherheitsbehörden zu unterstützen - sowohl bei der Entwicklung von Strategien und Techniken zur besseren Kontrolle der Grenzen als auch der Bekämpfung irregulärer Migration. Begründung: wegen fehlender Kapazitäten sei die Grenze nicht ausreichend gesichert, und Migrant*innen könnten relativ unbehelligt das Mittelmeer erreichen. Die Eröffnung einer ständigen EUCAP-Präsenz in Agadez (siehe Karte oben), einem historischen Migrations-Hub an der Grenze zur Sahara, unterstrich die Priorisierung der Mission, die nun auf eine Militarisierung der Grenze zwischen Niger und der Sahara abzielt. So sollen Migrant*innen davon abgehalten werden Nordafrika zu erreichen.

Nationales Vorgehen, internationale Auswirkungen

Die Verlagerung des EUCAP-Schwerpunkts kollidierte allerdings mit der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS). Sie steht für einen regionalen Zusammenschluss von Staaten (einschließlich Niger) zur Förderung der wirtschaftlichen Integration in der Region: ein Westafrika, das die Freizügigkeit für die Bürger der Mitgliedsländer gewährleistet. Viele Migrant*innen auf dem Weg nach Europa entstammen aber genau diesen Mitgliedsländern - ein Hindernis für die EU, sie daran zu hindern, nach Libyen oder Algerien und damit nach Europa zu kommen. Die Lösung des Problems bestand in der Neudefinition von Programmen wie EUCAP Sahel Niger, das nun um stärkere Grenzkontrollen und -sicherheit erweitert wurde. Was in Folge die im ECOWAS-Vertrag garantierte Freizügigkeit deutlich einschränkte.

Der EUTF:  Die Neuerfindung von Entwicklungshilfe

Der EU Emergency Trust Fund for Africa (EUTF) wurde 2015 unmittelbar nach dem Valletta-Migrationsgipfel eingerichtet. Er dient als Nothilfeinstrument , um die Ursachen von Instabilität, Zwangsvertreibung und irregulärer Migration zu bekämpfen. Der EUTF ist 5 Milliarden Euro schwer und wird zu 88 % von der EU und zu 12 % von den Mitgliedstaaten finanziert. Er genehmigt und finanziert Projekte, die von nationalen, internationalen und privaten Akteuren ausgeführt werden. Geografisch ist er in drei afrikanischen Regionen tätig: im Norden des Kontinents, am Horn von Afrika und in der Sahelzone/Tschadsee. Niger ist mit 15 Projekten im Wert von knapp 280 Millionen Euro größter Empfänger in der Sahelzone.

Kritiker*innen betonen den offensichtlichen Widerspruch, ein Notfallinstrument zur Bekämpfung langfristiger Ursachen zu schaffen - für sie ein klarer Hinweis auf die Kurzsichtigkeit der Maßnahmenpakete.

Assamaka, Niger 02-2019 Migrants forcefully arrested in Algeria, transported to the Nigerian border and left without support in the Sahara desert - here seen at IOM support center in Assamaka.
Migranten, die in Algerien verhaftet, nach Niger zurückgebracht und in der Wüste sich selbst überlassen wurden. Hier in einem Stützpunkt der Internationalen Organisation für Migration (IOM) nach ihrer Rettung in Assamanka.

Viele EUTF-Projekte zeigen, wie sehr der EU daran gelegen ist, Migrationsbewegungen zu unterbinden. Laut eines Oxfam-Berichts von 2020 mangelt es insbesondere an der Schaffung sicherer und regulärer Fluchtrouten - eigentlich war genau das eines der Ziele des Valletta-Gipfels. Derzeit werden aber bloß 1,5 % des EUTF-Gesamtbudgets dafür verwendet. Was wiederum Migrant*innen dazu zwingt, auf noch gefährlicheren Routen zu reisen. Diese Entwicklung ist mittlerweile zu beobachten. Verstärkte Kontrollen, insbesondere an Oasen, lassen Schmuggler*innen riskantere Fluchtwege durch die Sahara nehmen. Was dazu führt, das Migrant*innen zunehmend in der Sahara an Dehydrierung sterben. 

Gesetz 036: Die Kriminalisierung von Migration


Dieses Gesetz ist ein nationales nigrisches Migrationsgesetz - und es veranschaulicht den Einfluss der EU auf politische Entscheidungen außerhalb ihres Hoheitsgebiets. Denn Gesetz 036 wurde mit voller Unterstützung und unter Druck der EU eingeführt, verabschiedet und umgesetzt: Migration durch Niger soll eingedämmt und stärker kontrolliert werden.

Zunächst wurde das 2015 erlassene Gesetz nur zögerlich durchgesetzt. Das änderte sich allerdings durch einen Sonderbesuch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in 2016. Sie erinnerte die nigrische Regierung an ihre Verantwortung bei der Eindämmung von Migrationsbewegungen. Ihrem Besuch folgten die des italienischen und des niederländischen Außenministers. Was in den Augen der Europäischen Kommission der Aufrechterhaltung des Momentums dienlich war.

Was genau regelt das Gesetz?

Gesetz 036 machte Migration und ihre Unterstützung (also etwa Transport oder Unterkunft von Migrant*innen) illegal. Verstöße werden mit Freiheitsstrafen bis zu 10 Jahren und Geldbußen bis zu zwei Millionen FCFA - rund 3.000 Euro - geahndet. Ein Gesetz mit weitreichenden Konsequenzen, die besonders im Migrations-Hub Agadez zu spüren waren, einer kleinen Stadt am Rande der Sahara. Von hier aus durchquerten Migrant*innen schon seit langem die Sahara. Die einheimische Bevölkerung war darauf eingestellt und vom Kommen und Gehen der Durchziehenden wirtschaftlich abhängig. 

In Interviews, die der Journalist und Migrations-Experte Giacomo Zandonini 2018 führte, wird deutlich, wie Gesetz 036 Agadez seiner wirtschaftlichen Existenz beraubte. Gleichzeitig verwies er auf die Kurzsichtigkeit des Gesetzes. Denn alternative Migrationsrouten führen zunehmend durch andere Städte. Laut Zandonini ist sich die EU dieser Verschiebungen und der damit verbundenen Verteuerung und deutlich höheren Gefährdung von Migrant*innen sehr wohl bewusst. Einer seiner Interviewpartner erinnert sich an den Tag, an dem das neue Gesetz mit der Verhaftung vieler Fahrer, von rund 2000 “Migrationsunterstützer*innen” sowie der entschädigungslosen Beschlagnahmung aller Fahrzeuge allein in Agadez durchgesetzt wurde.

Ist das ganze Land in Gefahr?

Den wirtschaftlichen Einbußen sollte wiederum der EUTF-Notfallfond entgegenwirken. Kritiker*innen weisen jedoch darauf hin, dass fast niemand von diesen Programmen profitiert habe. Konfliktforscher Morten Bøås - mit Schwerpunkt Afrika - verweist etwa auf einen Mann aus Agadez, deer bestätigt, das Unterstützungszahlungen in Aussicht gestellt worden seien. Nur habe die Stadt nichts davon erhalten. Die EU habe ihre Zusagen nicht eingehalten, was zu Missständen führen werde, die ganz Niger destabilisieren könnten.

Ähnlich wie EUCAP Sahel Niger wirkt sich auch Gesetz 036 auf den ECOWAS-Vertrag aus. Während EUCAP mit vermehrten Grenzkontrollen die Durchreise von Migrant*innen durch Niger erschwert, macht Gesetz 036 sie gänzlich illegal. Das Gesetz gilt Kritiker*innen als klarer Hinweis darauf, dass die Einflussnahme der EU,  Migration zu verhindern, deutlich über reine Entwicklungsprogramme hinausgeht.

Fazit

Das Beispiel Niger verdeutlicht die Externalisierungspraxis der EU in einem konkreten Land anhand konkreter Maßnahmen. Die Verschiebung der europäischen Grenzen "nach außen" wird mehr und mehr zum Kernstück ihrer Migrationspolitik. Wichtig ist, sich die Konsequenzen dieser Strategie vor Augen zu führen. 

Laut den beiden Migrations-Expertinnen Anca-Elena Ursu und Daria Davitti führen Versicherheitlichung und Militarisierung der Migrationskontrolle in Niger zu drei Sicherheits-Paradoxien, die untrennbar miteinander verbunden sind. Erstens habe Niger eine lange Migrations-Geschichte. An den wichtigsten Knotenpunkten habe sich die lokale Bevölkerung daran angepasst und so ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage geschaffen. Die nun durch europäischen Einfluss und hartes Durchgreifen gefährdet sei. Zweitens seien Schmuggler*innen angesichts der repressiven und restriktiven Politik gezwungen, neue, längere und gefährlichere Routen durch die Sahara nach Nordafrika zu erkunden, was einen viel höheren Risikofaktor für Migrant*innen bedeute. Drittens würde die örtliche Polizei vor allem kleinere Akteure der milliardenschweren Migrationsindustrie auf Basis von Gesetz 036 ins Visier nehmen. Die Köpfe der Schmuggler-Netzwerke blieben aufgrund ihrer Verbindung zur politischen Elite unbehelligt. Eine lose-lose Sitauation für (fast) alle Beteiligten.

Fatale Kooperation

Niger, einer der Hauptempfänger von EU-Hilfe, hat sich indes bereit gezeigt, die Transitmigration auf Anweisung Europas einzudämmen. Wodurch das Land weit oben auf die Kooperationsliste der EU rückte. Die Auswirkungen dieser Zusammenarbeit sind allerdings fatal. Die Sorgen der EU vor Migrant*innen aus Afrika werden von der Bevölkerung Nigers meist nicht geteilt. Ihr Augenmerk gilt den Lebensbedingungen vor Ort, die der zunehmende Einfluss der EU auf die Migrationskontrolle bedroht. Ihre Außenpolitik schränkt nicht nur die Lebensgrundlage der einheimischen Bevölkerung ein, sie schränkt auch Migrant*innen aus der ECOWAS-Region in ihren garantierten Rechten ein. Die Kurzsichtigkeit politischer Entscheidungen sowohl der EU als auch Nigers führt dazu, Migrant*innen in der Mitte zwischen beiden Akteuren gefangen sind. Wohin auch immer die Kooperation der beiden ungleichen Partner führen wird - den Preis werden am Ende die Migrant*innen zahlen müssen.



Quellen:
Bøås, M. (2020). EU migration management in the Sahel: unintended consequences on the ground in Niger? Third World Quarterly, pp. 1-16.
Castillejo, C. (2016). The European Union Trust Fund for Africa: a glimpse of the future for EU development cooperation. Bonn: Discussion Paper, No. 22/2016, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE).
Davitti, D., & Ursu, A.-E. (2018). Why Securitising the Sahel Will Not Stop Migration. FMU Policy Brief No. 02/2018, pp. 1-5.
ECOWAS. (2020). Basic Information. Retrieved from Economic Community of West African States: ECOWAS I Basic Information 
EUCAP Sahel Niger. (2019). Factsheet: EUCAP Sahel Niger. Retrieved from European Union External Action Service: EUCAP Sahel Niger Factsheet 
European Commission. (2016, December 14). Communication from the Commission to the European Parliament. Retrieved from European Union External Action Service: Progress Report 
European Commission. (2020). Factsheet: The EU Emergency Trust Fund for Africa. Retrieved from European Commission: EUTF FOR AFRICA 
HDI. (2019). Human Development Reports. Retrieved from United Nations Development Programme: | Human Development Reports
Jakob, C., & Schlindwein, S. (2017). Diktatoren als Türsteher Europas: Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert. Berlin: Christoph Links Verlag GmbH
Jegen, L. (2019). The Political Economy of Migration Governance in Niger. Retrieved from Arnold Bergstrasser Institut: The Political Economy of Migration Governance in Niger 
Bildquelle:
European anti-migration agenda could challenge stability in Niger