Der Begriff klingt sperrig. Doch es lohnt sich, ihn unter die Lupe zu nehmen. Denn dahinter stecken tiefgreifende und oft tödliche Konsequenzen für Migrant*innen weltweit.
Rund 82 Millionen Menschen weltweit sind derzeit auf der Flucht, das ist etwa ein Prozent der Weltbevölkerung. Menschen verlassen ihre Heimat aus unterschiedlichsten Gründen, doch die Zielländer nehmen internationale Migration vor allem als reales Sicherheitsrisiko und existentielle Bedrohung wahr. ‚Versicherheitlichung‘ meint daher die Legitimation einer restriktiven Migrationspolitik: Es gilt, Sicherheitsbedenken in Form von Migrant*innen zu bekämpfen.
Ein Blick zurück zeigt: Diese Wahrnehmung war nicht immer dominant. Migration mit Versicherheitlichung zu begegnen, wird oft erst mit 9/11, dem Terroranschlag in New York am 11. September 2001, in Verbindung gebracht. In Europa beschleunigte die sogenannte “Flüchtlingskrise” 2015/16 die Verknüpfung von Migration mit Sicherheit. Mittlerweile scheint diese Sichtweise die Debatte zu dominieren und ist oft die einzige Linse, durch die Fluchtbewegungen diskutiert werden.
Versicherheitlichung bedeutet die Instrumentalisierung objektiver Ängste (den Wohlfahrtsstaat nicht erhalten und Beschäftigung nicht länger garantieren zu können) und subjektiver Befürchtungen (den scheinbaren Verlust kultureller Werte und der Homogenität und nationalen Identität). Im Mittelpunkt steht dabei meist die ‚irreguläre Migration‘ als Bedrohung der sozioökonomischen, territorialen und kulturellen Sicherheit. Dafür hat die Migrationsforschung einen Begriff: den Migrations-Sicherheits-Nexus. Das ist der bewusst konstruierte Zusammenhang zwischen Migration und Sicherheit, der vor allem im “Migrationsmanagement" zum Ausdruck kommt.
Scheinbare Sicherheitsbedrohungen werden zunächst konstruiert, um damit eine ablehnende, restriktive öffentliche und politische Haltung gegenüber Migration zu erzeugen. Migrant*innen (ob ‚irregulär‘ oder nicht) werden zu Sündenböcken für soziale Schwächen im Aufnahmeland gemacht. Was oft mit steigender Fremdenfeindlichkeit einhergeht. ‚Versicherheitlichte‘ Migrationspolitik will daher Migrationsbewegungen stoppen oder unterbrechen. Migrant:innen werden, so der Fachbegriff, dehumanisiert, also entmenschlicht („Flüchtlingstsunami“), und somit zum Spielball einer Politik, die migrierende Menschen als Risiken wahrnimmt.
Der "globale Norden" schottet sich zunehmend gegen Migrationsbewegungen aus dem "globalen Süden" ab. Ergebnis ist ein institutionelles System, das manche Migrationsforscher*innen bereits als "militarisierte globale Apartheid" bezeichnen. Getrieben von Sicherheitsbedenken zielt die Politik des Nordens darauf ab, menschliche Mobilität – sofern sie nicht etwa touristischer Natur ist - zu verhindern und zu kriminalisieren.
Konkret zeigt sich das in hochgerüsteten Grenzkontrollen, in Rückführungs- und Rückübernahmeregelungen und der Inhaftierung von Migrant*innen in Herkunfts-, Transit- und Zielländern. Forschung und Erfahrung zeigen zwar seit langem: Die Militarisierung und Aufrüstung von Grenzen dämmen irreguläre Migrationsbewegungen nicht wirksam ein. Aber sie erzeugen eine – politisch so gewollte - symbolische Wahrnehmung, dass „wir unsere Grenzen unter Kontrolle haben“. Einige Migrationsforscher*innen verstehen Migrant*innen daher auch oft als “Ersatzgrenzen”. Damit soll die Tatsache umschrieben werden, dass Grenzen und Exklusion basierend auf dem Status des Individuums real werden.
Bestehende Machtgefälle zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern erleichtern sowohl die Maßnahmen als auch die Durchsetzung der Versicherheitlichung von Migration zusätzlich. Im Fall von Europa und dem afrikanischen Kontinent hat die Ungleichheit ihre Wurzeln in der Kolonialgeschichte, die beide Kontinente verbindet. Zugleich wird afrikanischen Staaten ein gleichrangiger Platz am migrationspolitischen Verhandlungstisch verwehrt.
Migrant*innen als Sicherheitsbedrohung für Europa - das ist ein sehr wirksames Narrativ. Allerdings regt sich in Teilen der Politik und der zivilgesellschaftlich engagierten Bevölkerung auch starker Widerstand: Vorurteile, heißt es, müssten abgebaut werden, um neuen, positiveren Migrations-Erzählungen Platz zu schaffen.
Das führt zu einem Twist der Geschichte: Um die Meinungshoheit nicht zu gefährden, konstruieren die EU und nationale Regierungen neue Narrative, die – bei oberflächlicher Betrachtung - humaner wirken. Migrationsforscher*innen zufolge verbirgt sich dahinter allerdings das gleiche sicherheits-basierte Verständnis von Migration. Das dann mit den gleichen Mitteln und Ergebnissen durchgesetzt wird.
Ein Beispiel: Das “humanitäre” Narrativ nimmt Migrant*innen nicht als Subjekte, sondern als Objekte der Bedrohung wahr. So werden sie nun Opfer, die gerettet werden müssen – diese Erzählung ist in der europäischen Migrationspolitik weit verbreitet. Das klingt dann so: Migrant*innen müsse man vor Gefahren auf den Migrationsrouten schützen, etwa vor „kriminellen Schlepperbanden“, vor Menschenhandel und Gewalt. Ein Narrativ, das wiederum restriktive Grenz- und Migrationspolitiken legitimieren soll.
Die Migrationsforschung ist sich sicher: Die Einschränkung regulärer Fluchtwege und die Militarisierung irregulärer Routen haben zu hohen Opferzahlen im Mittelmeer geführt – ein unmittelbares Ergebnis des europäischen Migrationsmanagements. Dieser scheinbar humanitäre Aspekt führt Migrant*innen - deren Sicherheit es vorgeblich zu schützen gilt - auf noch gefährlichere Routen, auf denen sie noch größeren Bedrohungen ausgesetzt sind.
Die zunehmende Externalisierung der Migrationskontrolle und die Bereitschaft der EU, dabei mit fragwürdigen Staaten, Warlords oder Organisationen zusammenzuarbeiten, untergräbt allerdings die Menschenrechtsstandards, auf deren Einhaltung die EU im Allgemeinen drängt.
Geografisch gesehen drückt sich die Verbindung zwischen Migration und Sicherheit vor allem in der sogenannten Externalisierung der Migrationskontrolle aus. Diese Strategie der Auslagerung von Migrationssteuerung in Herkunfts- und/oder Transitländer jenseits der europäischen Grenzen hat wesentlich zum Sicherheitsnarrativ beigetragen. Die geografische Reichweite dieser Auslagerung ist ein weiterer Gegenstand der Migrationsforschung.
Sie bezeichnet die Externalisierungspraxis als "Hypergovernance der Migration". Demnach bildete die EU seit der Liberalisierung der Innengrenzen vier konzentrische Kreise, die die geografische Reichweite ihrer Abwehr von Migration widerspiegeln.
Da ist erstens die EU als "Festung Europa". Der Zugang zu ihr soll nur den wenigsten offen stehen.
Den zweiten Kreis formen jene Staaten, die nach dem Ende des Kalten Krieges und später, im Zuge der Balkankriege der 90ger Jahre, den Beitritt zur EU anstrebten. Migrationsbewegungen aus diesen Ländern wurden zunächst einem sicherheitspolitischen Narrativ unterworfen.
Der dritte Kreis reicht im Osten bis in die Türkei und im Süden bis nach Nordafrika. Im Fall der Türkei etwa durch das Abkommen von 2016 – dem sogenannten EU-Türkei Deal. Länder wie Marokko, Libyen und die Türkei fungieren dabei als Türsteher Europas, um Migrationsbewegungen einzuschränken und einzudämmen.
Der letzte und strategisch jüngste Kreis umfasst Afrika südlich der Sahara und den Nahen Osten. Darin sind zahlreiche Herkunftsländer enthalten, in denen die externe Migrationspolitik der EU darauf abzielt, die "Grundursachen" von Migration durch Entwicklungshilfe zu beseitigen.
In Summe heißt das: Versicherheitlichung führt zur Abschottung Europas, und soll auf die Eindämmung von Migrationsbewegungen (in Transitländern) beziehungsweise ihrer Verhinderung (in Herkunftsländern) hinarbeiten.
Eines ist klar: Sicherheitsorientierte Maßnahmen werden nicht allein von einer kleinen Gruppe politischer Eliten – auf nationaler oder europäischer Ebene – umgesetzt. Dahinter steckt eine Vielzahl von Akteur*innen. Weil sie sicherheitsorientierte Migrationsstrategien bereitwillig mittragen, sind vor allem auch nichtstaatliche Organisationen (IGOs) entscheidend für deren Erfolg.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) etwa oder das UNHCR spielen bei der Steuerung von Migrationsströmen eine bedeutende Rolle. Einige Migrationsforscher:innen sind der Meinung, dass IGOs in ihrer Vermittlerrolle zwar positive Narrative befürworten und verbreiten können. Konsens besteht jedoch darin, dass IGOs auch dazu beitragen, Migration als Sicherheitsproblem festzuschreiben. Denn, so wird argumentiert, ein sicherheitsorientierter Diskurs sei in der Zusammenarbeit von IGOs und Staaten von zentraler Bedeutung. Wenn IGOs vor allem staatliche Ansichten zu Migrationsmanagement, Grenzkontrollen und Souveränität nicht kritisch genug hinterfragen, legitimieren sie – gewollt oder ungewollt - restriktive Maßnahmen.
NGOs - also unabhängige Nichtregierungs-Organisationen - wiederum gelten als enge Verbündete von Migrant*innen. Eine Annahme, die irreführend sein kann und von Migrationsforscher*innen durchaus relativiert wird. Denn manche NGOs, so die Kritik, beförderten das restriktive europäische Verständnis von Migration. Dann nämlich, wenn sie in staatliche migrationspolitische Rahmenbedingungen eingebunden sind – indem sie etwa innerhalb von EU-Projekten tätig sind oder sonst mit der EU (oder auf nationaler Ebene) vertraglich kooperieren. Denn dann könnten vertragliche Verpflichtungen den Übergang eines humanitären zu einem sicherheitsorientierten Ansatz diktieren.
Auch die Neudefinition der Entwicklungshilfe unterstreicht – schleichend, aber deutlich wahrnehmbar – das stetig zunehmende Sicherheitsverständnis. Was auch als Antwort auf die zögerliche Zusammenarbeit von Nicht-EU-Staaten mit den Migrationsstrategien der EU gelesen werden kann. Insbesondere der Erfolg von Rückübernahmeabkommen hängt in hohem Maße davon ab, dass Drittstaaten "unerwünschte" Migrant*innen auch tatsächlich zurücknehmen. Als im Frühsommer 2002 die EU-Präsidentschaft Spaniens endete, zeigten die Schlussfolgerungen des Abschlussgipfels des europäischen Rates klar die allmähliche Verbindung eines sicherheitsorientierten Verständnisses von Migration mit Entwicklungshilfe.
Als zentrale Strategie erweist sich dabei die Verknüpfung von Entwicklungshilfe mit der Unterstützung von Migrationskontrolle. Entwicklungshilfe wird instrumentalisiert, um Sicherheits-Narrative durchzusetzen. Mehr Kooperation bei der Implementierung europäischer Migrationsziele führt demnach zu mehr Entwicklungshilfe und wirtschaftlichen Vorteilen. Die Bedingung, die Steuerung von Migrationsbewegungen bereitwillig zu unterstützen, ist zu einem festen Bestandteil künftiger Entwicklungsprogramme geworden.
Auch auf Nicht-Kooperation hat die EU eine Antwort: Widerstand gegen diese Scheinkooperation kann zu "Strafen” führen, wie etwa der Androhung von Visabeschränkungen.
Die Versicherheitlichung der Migration war und ist ein schleichender Prozess – er definiert die politische und gesellschaftliche Wahrnehmung von Migrant*innen. Die Darstellung bestimmter Menschen in Bewegung als Sicherheitsrisiko für Europa hat das migrationspolitische Klima zusätzlich verpestet. Furcht vor ihnen ist konstruiert und unbegründet, führt jedoch dazu, dass Migration oft als größte Sorge für Staat und Gesellschaft wahrgenommen wird.
Tatsächlich sind es die Menschen in Bewegung, die aufgrund ihrer Kriminalisierung auf gefährlichste Fluchtwege ausweichen müssen. Aber auch jene, die bereits in Europa sind, sehen sich oft alltäglichem Rassismus und ausgrenzender Xenophobie ausgesetzt.
Die Militarisierung der EU-Außengrenzen erzeugt bloß den Schein von Kontrolle. In einer globalisierten Welt ist effektiver Grenzschutz kaum möglich. Daher ist es ein Gebot der Menschlichkeit, auch die positiven Aspekte von Migration zu berücksichtigen und die allzu enge Verbindung aus Migration und Sicherheit wieder zu kappen.