Es wird Zeit: Für das Wahlrecht von Migrant*innen

Unser Wahlsystem hinkt der Realität hinterher. Die Gesetze zeigen wie restriktiv das Wahlrecht in Österreich ist und dass es Zeit für einen alternativen Weg ist.

von
Nicolas Arp
und

“No taxation without representation” - diese Kernaussage vereinte die britischen Kolonist*innen gegen die Herrschaft der britischen Krone in Nordamerika. Es folgten Aufstand, Krieg und Unabhängigkeit.

Ausgelöst unter anderem durch eine zutiefst verständliche Auffassung: Menschen, die Steuern zahlen, sich also staatlicher Kontrolle unterwerfen müssen, haben ein Recht auf politische Vertretung. Und das Recht diese zu wählen.

Die bald anstehende Wahl zur österreichischen Bundespräsidentschaft wirft wieder mal eine wichtige Frage auf: Wer darf Kandidat*innen für dieses Amt überhaupt wählen? Wer nicht? Ist das Wahlrecht in Österreich fair oder muss es reformiert werden?

So ist es in Österreich geregelt

Die Antwort auf die oben gestellte Frage ist kurz: Generell haben nur österreichische Staatsbürger*innen das Recht eine politische Vertretung zu wählen. Das gilt für nationale, regionale und kommunale Wahlen. 

Klar, wer wählen will, muss neben der Staatsbürgerschaft einige Anforderungen erfüllen, etwa ein bestimmtes Alter erreicht haben. Außerdem dürfen Personen nicht wählen, wenn sie gerichtlich vom Wahlrecht ausgeschlossen wurden. Abgesehen davon ist die Staatsbürgerschaft die einzig wirkliche Hürde zwischen wählen und nicht-wählen. 

Falls jemand jetzt beim Lesen stockt, ist das nachvollziehbar. Denn Österreich besteht nun mal nicht rein aus österreichischen Staatsbürger*innen. Hier leben Menschen aus aller Welt und aus unterschiedlichsten Gründen. Allerdings ändert weder die Anzahl der verbrachten Jahre im Land noch des Status als Unionsbürger*in nichts an der exklusiven Natur des österreichischen Wahlrechts. Und das, obwohl das Recht wählen zu gehen eines der grundlegendsten unserer Demokratie ist.

Eine anfängliche Liberalisierung des strengen Wahlrechts gab es vor geraumer Zeit für Unionsbürger*innen, die in Österreich -oder anderen EU-Staaten -  leben. Mit dem Vertrag von Maastricht in 1992 wurde diesen das Recht zugesprochen an Gemeinderatswahlen und Wahlen des Europäischen Parlaments teilzunehmen ohne die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen zu müssen. 

Seither hat sich in Österreich jedoch wenig getan, um alle hier lebenden Menschen an der politischen Willensbildung teilhaben zu lassen. Interessanterweise unternahm das Bundesland Wien 2003 einen eigenen Versuch ein kommunales Wahlrecht für alle Menschen ohne österreichischer Staatsbürgerschaft einzuführen. Einzige Voraussetzung war ein fünfjähriger Hauptwohnsitz in Wien. Der Verfassungsgerichtshof kam jedoch zu dem Entschluss, dass ein solches Vorhaben gegen die Verfassung verstößt. Ende der Liberalisierung.

Erwähnenswert ist auch die “Pass Egal Wahl” von SOS Mitmenschen, die es Menschen unabhängig von der Staatsbürgerschaft ermöglicht, zeitgleich zu österreichischen Wahlen auch ihre Stimme abzugeben. Aufgrund der oben beschriebenen Rechtslage beeinflussen diese Stimmen die Wahl zwar nicht. Allerdings werden dadurch kostbare Daten über die politische Stimmung aller in Österreich lebenden Menschen gewonnen - die sich oft deutlich vom offiziellen Wahlausgang unterscheidet.  

Es geht auch anders

Zwar ist Österreich in Sachen “exklusives Wahlrecht” kein Einzelgänger. Deutschland und Italien z.B. handhaben es gleich. Allerdings sind die EU-Staaten, die Menschen anderer (Nicht-EU) Staatsbürgerschaften vollends von Wahlen ausschließen auch nicht in der Mehrheit. 

Insbesondere ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Staatsangehörige besteht in Schweden (1975), Dänemark (1981), Niederlande (1985), Finnland (1991), Estland (1997), Litauen (2002), Slowenien (2002), Luxemburg (2003), Slowakei (2003), Belgien (2004), Ungarn (2004), Irland (2010) und Griechenland (2010). 

Großbritannien ist in dieser Hinsicht etwas gespalten. Wales und Schottland lassen die meisten Menschen wählen. Für Wahlen zum schottischen Parlament z.B. sind alle regulär in Schottland lebenden Menschen (ab 16 Jahren) zugelassen. Ähnliches ist in Wales geregelt. Wahlen zum englischen Parlament hingegen sind restriktiver organisiert. Neben UK-Staatsbürger*innen sind Menschen mit irischer Staatsbürgerschaft zugelassen, sofern sie in England leben. Dasselbe gilt für Menschen aus dem britischen Commonwealth. 

Ein andere Besonderheit gibt es im Fall von Portugal. Dort wird allen Nicht-EU-Staatsangehörigen ein Wahlrecht eingeräumt solange das jeweilige Herkunftsland mit Portugal ein entsprechendes Abkommen hat. 

Was bedeutet der Ausschluss von der politischen Partizipation

Der Ausschluss von Wahlen kann viele negative Langzeitfolgen für betroffene Menschen mit sich bringen. In Österreich und Deutschland betrifft das sowohl an sich privilegierte EU-Bürger*innen, die keine Staatsbürgerschaft besitzen, wie auch Geflüchtete mit Schutzstatus, Expats und irreguläre Migrant*innen, auch wenn nicht in gleichem Maße. Es gibt jedoch nachvollziehbare Gründe ein Wahlrecht für all diese Gruppen zu diskutieren.

Unionsbürger*innen haben in der Regel weniger mit mangelnder Willkommenskultur, Rassismus, Xenophobie und sozialer Ausgrenzung zu tun. Neben unzähligen Verboten und einer paternalistischen und restriktiven Migrationspolitik werden dringend andere Signale benötigt. Signale, die zeigen, dass alle Menschen in Österreich nicht nur die Pflichten einer demokratischen Gesellschaft einzuhalten haben, sondern im Gegenzug auch alle Rechte genießen können. Das Wahlrecht bleibt jedoch eines der Grundrechte, die einem bestimmten Bevölkerungsteil weiterhin verschlossen bleibt. 

Laut der Migrationsforscherin Judith Kohlenberger ist Österreich seit jeher ein Einwanderungsland - was jedoch nie Teil des nationalen Selbstverständnisses wurde. Weiter prangert sie die emotionalen Folgen eines fehlendem Wahlrecht an. Zwar können Menschen ohne österreichischer Staatsbürgerschaft Teil einer “wirtschaftlichen oder sozialen Gemeinschaft, aber kein vollwertiges Mitglied einer politischen Gemeinschaft” sein. Emotional wird zudem das Gefühl “auch im Alltag nichts zu sagen zu haben und sich z.B. bei Ablehnungs- und Marginalisierungserfahrungen zur Wehr setzen zu können” verstärkt.

Gibt es bessere Ideen?

Wählen zu dürfen sollte ein Recht sein und kein Privileg, dass nur einer durch die Staatsbürgerschaft abgegrenzten Gruppe zusteht. Ausgehend von diesem Standpunkt gab und gibt es viele Ideen, restriktive Wahlrechte auszuweiten.

Wohnsitz statt Staatsbürgerschaft

Einer dieser Vorschläge leitet das Wahlrecht für alle Menschen vom Wohnsitz ab. Er beruft sich dabei auf das Machtmonopol, das der Staat gegenüber allen Einwohner*innen eines Landes hat. Erlassene Gesetze und Vorschriften sind allgemein gültig und nicht nur auf bestimmte Gruppen beschränkt. Es wäre, so die Theorie, ganz im Sinne einer funktionierenden Demokratie, wenn alle Menschen, die dem Machtmonopol des Staates unterliegen, auch über die politische Vertretung mitbestimmen können. Sie haben ein legitimes Interesse an der Mitwirkung an politischen Prozessen und Entscheidungen. 

Darüber hinaus sollte das Wahlrecht nicht nur auf die kommunale Ebene begrenzt werden - wie es ja in machen Staaten bereits der Fall ist. Nein, nationale Gesetze müssen im gesamten Land respektiert werden. Und verpflichten daher alle dort lebenden Menschen.

Alle Betroffenen?

Andere Ansätze gehen meist in eine ähnliche Richtung, unterscheiden sich aber in der Herleitung und den Konsequenzen.

So wird argumentiert, dass wirklich alle Menschen, die an Entscheidungen des Staaten gebunden sind, auch ein Wahlrecht verdienen. Interessanterweise sind hier die Auswirkungen progressiver. Denn auch undokumentierte Migrant*innen müssen sich dem Machtmonopol des Staates unterwerfen und Entscheidungen respektieren. Nur haben sie eben nicht immer einen festen Wohnsitz. Ihnen sollte aber dennoch das Recht zustehen, ihre politische Vertretung zu wählen. 

Dagegen wird oft argumentiert, dass Menschen, die erst vor kurzem ins Land gekommen seien - und somit dessen nationalen Gesetzen unterliegen -  noch nicht genug über das Aufnahmeland wissen, um sich eine politische Meinung zu bilden. Dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings sehen Befürworter*innen darin weniger ein Hindernis sondern vielmehr eine Aufgabe des Staates. 

Vor allem aber: Die Entwicklung des Wahlrechts für Nicht-Staatsbürger*innen darf keine leere Geste der Integration sein. Doch ohne dem Fördern von politischer Partizipation wäre das genau der Fall. Behörden auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene müssen daher kontinuierlich barrierefreie Informationen über das Wahlrecht, den Ablauf von Wahlen, die Registrierung als Wähler*innen usw. bereitstellen. Darüber hinaus sollten Angebote geschaffen werden, die interessierten Menschen über die Staats- und Parteienstruktur aufklären.  

Tatsache ist, dass die Wahlbeteiligung in den westlichen Demokratien generell gering ist - was langfristig demokratiegefährdend werden kann. Ein nicht leicht zu definierender, aber  größer werdender Teil der Bevölkerung hat offensichtlich kein Interesse mehr daran, sein Wahlrecht auszuüben. Diesen Menschen das Wahlrecht wegzunehmen würde jedoch niemandem einfallen.

Alles andere wäre moralisch nicht vertretbar

Daher stützen sich einige Befürworter*innen eines erweiterten Wahlrechts auch auf ethische Argumente. Demokratien sind am stärksten und widerstandsfähigsten, wenn es einen hohen Grad an politischer Partizipation gibt. Insbesondere etablierte Politiker*innen müssen dann schnell feststellen, dass sie nicht einfach nur an ihre Basis appellieren müssen um an die Macht zu kommen. 

Restriktive Wahlsysteme stehen einer politischen Beteiligung aller betroffenen Menschen im Land jedoch diametral entgegen. Politiker*innen sehen oft keinen Sinn darin sich um Stimmen von Migrant*innen zu bemühen, die ohnehin nicht wählen können. Dies führt zu politischer Exklusion. Regierungen kümmern sich nicht um diese Menschen, und Nicht-Staatsbürger*innen haben kaum Möglichkeiten, ihren Anliegen in der Politik Gehör zu verschaffen. 

Das macht es konservativen und rechten Kräften einfach, mit diskriminierenden Wahlprogramme und -versprechen zu punkten. Sie müssen nicht befürchten, dass Opfer ihrer Hetze gegen sie wählen werden und sprechen damit gleichzeitig einen beträchtlichen Teil der Staatsbürger*innen an.

To vote or not to vote - that really is the question

Das Recht zu wählen und die politische Vertretung eines Landes mitzubestimmen ist für eine funktionierende Demokratie unerlässlich. Politiker*innen können dadurch in Schach gehalten werden, friedliche Machtwechsel sind möglich. 

Um diesem Prinzip, für das lange gekämpft wurde, gerecht zu werden, muss das veraltete Wahlsystem überarbeitet werden. Es unterscheidet zwischen Staatsbürger*innen und allen “anderen” und entspricht einfach nicht mehr unserer Lebensrealität. Es ist exklusiv und diskriminierend. Es schließt einen beachtlichen - und wachsenden - Teil der Bevölkerung aus.

Das Wahlrecht in Österreich scheint wie für die Ewigkeit in Stein gemeißelt. Was kaum verwundert, ist es doch das einzige Regelwerk, das die meisten von uns kennen. Aber Verbesserungsvorschläge gibt es. Forscher*innen beschäftigen sich seit Jahrzehnten damit, das Wahlrecht inklusiver zu gestalten. Und damit der unumkehrbaren gesellschaftlichen Entwicklung - endlich - Rechnung zu tragen. 

Quellen: 
Angell, K., & Huseby, R. (2017). Should Irregular Immigrants Be (Rapidly) Enfranchised? Political Research Quarterly, 70 (2), 363–373.
Bauböck, R. (2005). Expansive citizenship--voting beyond territory and membership. PS: Political Science and Politics, 38 (4), 693–687.
Ferris, D., Hayduk, R., Richards, A. et al. (2020). Noncitizen Voting Rights in the Global Era: a Literature Review and Analysis. Int. Migration & Integration 21, 949–971
Kohlenberger, J. (2022). Interview mit SOS Mitmensch. Abrufbar unter https://www.sosmitmensch.at/migrations-expertin-kohlenberger-zur-pass-egal-wahl
Michel, E. & Blatter, J. (2020). Enfranchising immigrants and/or emigrants? Attitudes towards voting rights expansion among sedentary nationals in Europe. Ethnic and Racial Studies,  44 (11), 1935-1954
Seidle, L. (2015). Local voting rights for non-nationals: experience in Sweden, the Netherlands, and Belgium. Journal of International Migration and Integration, 16 (1), 27–42.
Wahlrecht in Großbritannien. Abrufbar unter https://commonslibrary.parliament.uk/research-briefings/cbp-8985/
Wahlrecht in Österreich. Abrufbar unter https://www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/wahlen/1/Seite.320210.html
Wilmes, B. (2018). Politische Partizipation von Migrantinnen und Migranten. Bundeszentrale für politische Bildung. Abrufbar unter https://www.bpb.de/themen/migration-integration/dossier-migration/247685/politische-partizipation-von-migrantinnen-und-migranten/